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Von Prognosen und Szenarien


Mitte August, vor ziemlich genau 10 Wochen, war die Rückreisewelle in vollem Gange. Die wöchentlichen Testzahlen hatten sich im Vergleich zum Frühsommer fast verdreifacht. Das RKI registrierte täglich im Schnitt etwa 1.200 neue Corona-Fälle – und eine Zeitung mit vier Buchstaben fragte mich: Wo landen wir im Herbst, wenn es so weitergeht?

Ich habe damals eine Zahl von bis zu 20.000 positiv Getesteten pro Tag für Ende Oktober errechnet. Eine riesige Schlagzeile, die mir böse Briefe eingebracht hat. Ich würde dramatisieren, ich solle mich schämen, derartige Panik zu verbreiten usw.

Wie wohlfeil wäre es nun, sich zurückzulehnen und zu konstatieren: Ich habe es damals schon vorhergesehen.


Corona-Prognose: Im Herbst drohen 20 000 Infektionen

Die Zahl der gemeldeten Corona-Neuinfektionen wächst langsam aber stetig. Laut Experten drohen im Herbst 20 000 Infektionen.

So einfach ist es nicht. Auch Statistiker:innen können nicht in die Zukunft blicken. Wir wägen Daten ab, wir konstruieren Modelle, die unter bestimmten Annahmen gelten. Unter anderen Annahmen können sie völlig versagen. Wenn ganz Deutschland plötzlich freiwillig Abstand hielte, Masken trüge und sich regelmäßig die Hände wüsche, sähe die Lage wohl anders aus.

Nun bedeuten 20.000 Fälle heute nicht das Gleiche wie im Frühjahr. Die Fallzahlen haben sich in jüngere Altersgruppen verschoben, Behandlungsmethoden haben sich verbessert, es wird ein größerer Teil der Dunkelziffer durch ausgeweitete Tests erfasst. Eine 7-Tage-Inzidenz von 50 im Oktober dürfte einer 7-Tage-Inzidenz von 10 bis 20 im März und April entsprechen.


Unstatistik - RWI Essen

Seit 2012 hinterfragen der Bochumer Ökonom und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer, der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer und der Dortmunder Statistiker Walter Krämer jeden Monat publizierte Statistiken und deren Interpretation in den Medien. Seit 2018 ist zudem Katharina Schüller, Geschäftsleiterin un…

Es wird wohl nicht lange dauern, bis mir jemand für diese Aussage Verharmlosung vorwirft.

Das Problem ist aber (noch) nicht die absolute Zahl an Fällen, sondern die Dynamik der Pandemie, die verglichen mit der Absolutanzahl wesentlich robuster ist gegenüber Veränderungen der Teststrategie oder auch gegenüber einer nicht 100-prozentigen Genauigkeit der Tests. Falsch Positive „kürzen“ sich einfach heraus, wenn Reproduktionszahlen berechnet werden.

Exponentielles Wachstum bedeutet, dass wir von 20.000 zu 25.000 Fällen genauso schnell kommen wie von 1.000 zu 1.250. 25.000 Fälle pro Tag wären aber selbst dann nicht mehr zu verkraften, wenn die Pandemie auf diesem Niveau stagniert. Obwohl anteilig weniger schwere Verläufe zu erwarten sind, lassen die aktuellen Daten den Schluss zu, dass dann mit einigen Wochen Verzögerung rund 8.000 bis 10.000 Intensivpatienten zu erwarten wären. Das könnte unser Gesundheitssystem nicht mehr stemmen.

Trotzdem sehe ich den jetzt anstehenden „Lockdown light“ kritisch. Im Frühjahr ist es mit harten Einschränkungen gelungen, innerhalb eines Monats die Fallzahlen um etwa den Faktor 10 zu reduzieren. Damals haben wir Schulen geschlossen und uns an Ausgangsbeschränkungen gehalten. Für den November sind solche Maßnahmen bisher nicht vorgesehen. Bis wir erste Auswirkungen sehen werden, dürften die Fallzahlen weiter steigen, vielleicht auf etwa 25.000, bevor sie wieder sinken. Mehr als einen Rückgang um Faktor 5 halte ich danach für sehr optimistisch. Das bedeutet: 5.000 Fälle pro Tag werden wir Ende November kaum unterschreiten.

Das sind relativ schlechte Aussichten für den Preis, der jetzt zu zahlen ist – nicht weil dieser Preis so hoch ist, sondern weil er nur einen kurzen Zeitgewinn bringen und dafür sehr viel Unmut schüren wird. Insbesondere unter denjenigen, die eh schon nicht „an Corona glauben“ und sich jetzt in ihren Thesen bestätigt sehen, weil ja bisher die Fallzahlen dramatisch gestiegen sind, aber die Zahl der Toten und Intensivpatient:innen noch überschaubar scheint.

Also geht es danach weiter wie bisher. Eine kurze Phase der Stabilität, dann pendelt sich R wieder zwischen 1,1 und 1,2 ein und Ende Februar liegen die Fallzahlen wieder auf dem Niveau von heute. Vielleicht kommt ausgerechnet dann noch eine Grippewelle hinzu.

All dies ist keine Prognose, sondern ein mögliches Szenario, das ich für wahrscheinlicher halte als andere. Ob es mit 30% Wahrscheinlichkeit eintritt oder mit 70%, das kann ich nicht beurteilen. Ich kann nicht in die Zukunft sehen.

Aber wenn ich auf Basis der Daten eine Entscheidung treffen müsste, würde ich für einen harten Lockdown plädieren, der die Fallzahlen möglichst rasch auf wenige 100 Fälle pro Tag senkt. Die zynische Lösung wäre es, die Pandemie einfach laufen zu lassen, damit Corona-Leugner:innen vielleicht doch noch den Ernst der Lage begreifen.

Ein Kompromiss ist manchmal die einzig durchsetzbare und trotzdem die schlechteste Lösung.

Ich bin froh, dass ich Statistikerin bin und keine Politikerin. Ich muss nur rechnen, nicht entscheiden.

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